27.06.2022

Flow und Fotografieren

Ohne Zweifel – der Flow ist momentan schwer „in“. Es gibt kaum aktuelle Bücher in denen nicht, zumindest hier und da, vom Flow die Rede ist. Es gibt sogar Bücher die ausschließlich vom Flow und das Fotografieren handeln.

Im Allgemeinen wird der Flow als das Eins-Sein mit der Welt definiert, was meistens mit Glücksgefühlen einhergeht. Ein Glücksgefühl was man in erster Linie einfach nur genießen sollte.
Lese ich jetzt aber z.B. in den Buch von Pia Parolin „Flow – Fotografieren als Glückserlebnis“ das der Flow dazu dient „mich gezielt weiterzuentwickeln und immer neue kreative Herausforderungen zu suchen und zu entdecken. Durch mehr Ausdauer wirst du effizienter sein“ S. 23 und weiter „Klare Ziele, ständiges Feedback zur eigenen Leistung intrinsische Motivation und ein Gefühl der Einheit mit der Aufgabe kennzeichnen ihn (den Flow): S.29
Des weiteren ist noch von Neurotransmittern, DZ-Dopamin, Rezeptoren, Synapsen, präfrontaler Kortex usw. die Rede.

Ich kann mich nicht gegen das Gefühl erwehren dass sich die Autorin im ganzen Buch sich den aktuellen Zeitgeist anpasst: in unserer Gesellschaft ist es angesagt dass wir uns ständig selbst optimieren, wir müssen immer effizienter sein, mehr Ausdauer an den Tag legen usw. Für mich ist das nur die totale Unterwerfung an den herrschenden Zeitgeist und fremdbestimmtes Handeln. Es gilt immer mehr Flow-Erlebnisse zu bekommen und dadurch immer effizienter und ausdauernder zu werden. Nicht die Qualität des Erlebnisses ist entscheidend sondern nur die schiere Quantität. Und wer nicht in den Flow kommt ist eben automatisch ein Looser.

Natürlich liebe ich es auch in den Flow zu kommen – um des Genusses selbst willen – ich schere mich dabei einen Dreck darum ob ich dadurch effizienter bin oder ob ich mich dadurch selbst optimiere. Ich erfreue mich an ihm und an die Fotos die ich im Flow mache. Mehr nicht – aber auch nicht weniger.

Aber ich bin ein Mensch der den Dingen gern auf den Grund geht, der nach dem „warum“, nach dem Sinn sucht.
Und darum frage ich mich, und diese Frage wird in dem Buch von Pia Parolin überhaupt nicht nachgegangen, warum können wir, also der Mensch überhaupt in den Flow, in das Gefühl Eins-Sein mit der Welt, kommen? Was steckt dahinter? Was ist der Grund, der Sinn? Denn eines sollte doch wohl klar sein: der Flow oder das Eins-Sein mit der Welt dient ja nicht nur der Fotografie allein oder generell dem „erschaffen“.
Daher noch einmal die Frage: warum kann der Mensch in einen Flow kommen, was ist der eigentliche Sinn dahinter das der Mensch dieses Eins-Sein mit der Welt erleben kann?

Zunächst das Grundsätzlichste: Wenn es ein Eins-Sein mit der Welt gibt – gibt es zwangsweise auch ein Getrennt-Sein von der Welt. Denn sonst wüssten wir ja gar nicht das wir uns gerade im Flow befinden, wenn wir uns dauernd im Flow befinden würden.

Nun sind viele Menschen der Meinung das dass Eins-Sein mit der Welt, das Flow-Erlebnis, der eigentlich erstrebenswerte Zustand sei, während das Getrennt-Sein von der Welt eher eine Art Sündenfall darstellt, den wir unbedingt überwinden müssen. Dafür spricht dass das Eins-Sein immer mit einem besonderen Glücksgefühl verbunden ist, welches wir natürlich immer wieder erleben möchten. Dagegen spricht aber: Glücksgefühle sind Gipfelerlebnisse. Wenn dieser Zustand zur Gewohnheit wird, löst sich das Glücksgefühl auf – und wir suchen nach einem neuen, anderen Erlebnis welches uns dieses Glücksgefühl wieder beschert.

Der Mensch ist wohl das einzige Wesen in der Natur das sowohl Eins mit der Welt und Getrennt von der Welt sein kann.
Und da in der Natur, meiner Meinung und Erfahrung nach, nichts ohne Grund, tieferen Sinn ist, ist es eben kein Manko, kein Sündenfall dass wir uns auch getrennt von der Welt sehen bzw. empfinden.
Ich sehe es eher als eine besondere Begabung die die Welt, oder die Natur, uns für bestimmte Aufgaben mit auf den Weg gegeben hat.

Als getrenntes Individuum von der Welt kann ich mich selbst und die Welt wahrnehmen. Die Vorstellung davon, wie die Welt beschaffen sein sollte, welche Bedeutung sie hat, welchen Sinn des Lebens und die Lebendigkeit in sich tragen, Werte und Urteile des Handelns – all das kann nur in einem Bewusstsein entstehen, das von der Welt getrennt ist, sie deshalb überhaupt erst wahrnehmen kann und aus dem Wahrgenommenen Werte formt, Bedeutung und Sinn. Es treibt uns dazu diese Werte in Handlungen umzusetzen und so zur Entwicklung der Welt beizutragen.

Doch eine ausschließliche Fixierung auf das Getrennt-Sein von der Welt führt dazu den Respekt vor der Lebendigkeit und damit vor der Welt, anderen Wesen und letztendlich auch vor sich selbst zu verlieren. Deshalb brauchen wir den Flow, das Eins-Sein mit der Welt. Es dient zur Verwurzelung mit der Welt. Deshalb gibt es auch zig Möglichkeiten oder Tätigkeiten in denen wir in den Flow kommen können. Weil wir ihn brauchen. Aber ihn eben nicht auf zwanghafte Weise herbeizuführen, sondern es einfach geschehen lassen. Das macht auch den Unterschied zwischen Quantität und Qualität aus.

Ich liebe das Fotografieren und ich liebe es in den Flow zu kommen, aber es steckt so viel mehr dahinter und es schadet nicht, wenn wir uns dessen hin und wieder bewusst werden.

In diesem Sinne …